Mittwoch, 15.10.2025

Wittenberg (wg). Explodierende Gaspreise und die ab dem 1. Oktober 2022 drohende Gasumlage gefährden immer mehr Industrieunternehmen in ihrer Existenz. Für die SKW Stickstoffwerke in Wittenberg-Piesteritz verursacht allein die Gasumlage monatliche Mehrkosten in Höhe von 30 Millionen Euro, eine Summe, die das Unternehmen durch die laufende Produktion nicht mehr decken kann. Die Produktion ruht bereits und laut Aussage des Unternehmens droht einem Großteil der rund 860 Mitarbeiter ab Oktober Kurzarbeit Null. Eine Werkschließung hätte nicht nur fatale Auswirkungen für die ganze Region, sondern für ganz Deutschland: Der Chemiebetrieb stellt Düngemittel und AdBlue her.

Deshalb fordern Landrat Christian Tylsch und Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör dringend Unterstützung durch den Bund. Beide haben unter der Überschrift „Drohender Stillstand in der Bundesrepublik“ am heutigen Freitag, dem 2. September 2022, einen Eilbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben und warnen vor den verheerenden Konsequenzen, wenn der LKW-Verkehr zum Erliegen kommt. Selbst betriebswirtschaftlich kerngesunden Unternehmen droht die Insolvenz, Mitarbeitern Arbeitslosigkeit bzw. Kurzarbeit.

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Ein Stopp der Düngemittel-Produktion führe mittelfristig für ganz Deutschland zu weitreichenden Problemen, schreiben Landrat und OB, und weisen darauf hin, dass die Produktion von AdBlue durch SKW „für die Aufrechterhaltung der bundesweiten Logistikbranche und der davon abhängigen deutschen Wirtschaft systemrelevant“ sei. Laut Aussage des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung würden täglich im Güterverkehr 2,5 Millionen Liter AdBlue verbraucht.

„Bei konstantem Verbrauch kommt es in den nächsten Tagen zum Notstand in der Versorgung mit AdBlue“, warnen die beiden Kommunalpolitiker. Bundesweit reichten die Vorräte nur sechs bis acht Tage, SKW selbst habe lediglich eine Million Liter AdBlue-Notreserve. Aufgrund der Gasumlage habe das Unternehmen aktuell die AdBlue-Produktion eingestellt, für das Anfahren der Produktion benötige SKW aus technischen Gründen zehn Tage. Dies verdeutliche die besorgniserregende Diskrepanz zwischen Vorräten, Notreserven und dem Produktionsnachschub.

Warenverkehr bricht zusammen, leere Regale drohen

„Mit dem gegenwärtigen Produktionsstopp bei SKW und der eingeschränkten Produktion der beiden anderen deutschen Herstellern steht dem Markt nur noch begrenzt AdBlue zur Verfügung, was zu massiven Einschränkungen der Logistikbranche und damit zu existenziellen Einschränkungen führen wird“, heißt es weiter in dem Brandbrief. „Sowohl die Lebensmittellieferungen sind bedroht, so dass leere Regale zu befürchten sind, als auch Zu- und Auslieferung für alle übrigen Wirtschaftsbereiche wegbrechen können.“

Am Beispiel des Landkreises und der Stadt Wittenberg werde die mit einem AdBlue-Mangel verbundene Kettenreaktion deutlich: Unter anderem wären 103 Großunternehmen mit circa 1.100 zugelassenen LKW für den gewerblichen Güterverkehr nur im Kreis Wittenberg von der Mangellage betroffen. In ihrem Brief beschreiben Landrat Tylsch und OB Zugehör die Konsequenzen: Im Stadtgebiet wäre die Tesvolt GmbH von den Zulieferketten abgeschnitten. Wegen der Unterbrechung der Kühlketten wären beispielsweise Lebensmittelproduzenten wie Upfield Holding, Jütro Tiefkühlkost und die Bayerische Milchindustrie EG in Jessen sowie Großlager wie das von Netto in Coswig vom Warenverkehr ausgeschlossen. Zitat: „Waren werden nicht angeliefert und nicht ausgeliefert, neue Waren nicht produziert. Leichtverderbliche Lebensmittel wie frisches Obst und Gemüse erreichen die Supermarktketten nicht mehr. Ein enormer wirtschaftlicher Schaden wäre das Resultat.“

Produktionsengpässe oder Produktionseinstellungen führten zur Streichung von Arbeitsplätzen. Bei Fünger Feinkost in Oranienbaum-Wörlitz wären 318 Beschäftigte, bei Pino Küchen in Coswig 241 Mitarbeiter und 203 Kolleginnen und Kollegen bei der Annaburger Nutzfahrzeug GmbH betroffen. Aber auch Entsorgungs- und Recyclingsunternehmen wie KER Kaiser Entsorgung & Recycling GmbH oder Zahna-Fliesen GmbH müssten ihr Leistungsspektrum herunterfahren bzw. einstellen.

Wo AdBlue fehle, könnten auch kein Busse im ÖPNV mehr fahren: „Nicht nur die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger im Landkreis sind dann abgeschnitten vom Einkauf, vom sozialen Leben – ja, sogar vom überlebenswichtigen Besuch beim Arzt“, heißt es in dem Brief. „Über 5.000 Schülerinnen und Schüler im Landkreis Wittenberg würden ohne den Schulbus nicht mehr in die Schulen kommen.“ Logistikunternehmen wie die Auch GmbH, Jänicke Transporte und Handel, Schade Logistik GmbH oder die Spedition Fuchs GmbH könnten ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. In Kemberg und Gräfenhainichen seien deutschlandweit tätige Bauzulieferbetriebe betroffen. Erschreckende Konsequenz: Vielen Unternehmen drohen Insolvenzverfahren bzw. sie müssen Anträge auf Kurzarbeit stellen.

Weiter heißt es: „Betriebswirtschaftlich kerngesunde Unternehmen stehen vor existentiellen Problemen. Das kann verhindert werden. Die SKW Stickstoffwerke GmbH wären sofort bereit, zu einem kalkulierbaren eigenen Risiko die Produktion wieder aufzunehmen, wenn es verlässliche Aussagen seitens der Bundesregierung gibt. Damit ist die Zeit zum Handeln jetzt. Es sind konkrete Entscheidungen zur Unterstützung für systemrelevante Betriebe zu treffen. Ohne AdBlue aus Piesteritz fährt in Deutschland kein LKW mehr, Polizei, Rettungsdienst, THW und Feuerwehr sind mit betroffen.“

Wegen der Dringlichkeit haben Landrat Tylsch und OB Zugehör ihr Schreiben auch an den Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, den Bundesminister für Finanzen, den Ostbeauftragten der Bundesregierung sowie nachrichtlich an den Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, denn Landeswirtschaftsminister und an die Fraktionsvorsitzenden von SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU im Deutschen Bundestag adressiert. Bereits vergangenen Montag gab es zur Problematik ein Krisengespräch in Berlin und am Donnerstag ein Gespräch mit Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze in Wittenberg.

Bild: Wittenbergs Landrat Christian Tylsch (l.) im Gespräch mit Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze. Foto: Alexander Baumbach

Von Redaktion