Wittenberg (wg). Laut Einschätzung des Fachdienstes Ordnung und Straßenverkehr des Landkreises zeigten am Sonnabend mehr als 1.500 Bürgerinnen und Bürger auf dem Wittenberger Marktplatz „klare Kante gegen Rechts“. Die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt hatte die Kundgebung angemeldet: „Aber wir konnten in kürzester Zeit mehr als 130 Einzelpersonen und über 40 Institutionen als Unterstützer gewinnen, das ist das breiteste Bündnis, welches ich als Akademie-Direktor bislang erlebt habe“, erklärte Christoph Maier.
Es habe im Vorfeld der Kundgebung massive Einschüchterungen sowie Versuche gegeben, die Veranstaltung zu delegitimieren. „Die Rechten fühlen sich stark, heute setzen wir ein starkes Zeichen dagegen“, so Maier. Die Evangelische Kirche sei in der NS-Zeit in weiten Teilen braun gewesen, dies sei heute kein Grund, „die Schnauze zu halten!“ Jeder, der sich mit der Geschichte der Reformation auseinandergesetzt habe, wisse, dass Luther ein Judenhasser gewesen sei. Auch dies sei kein Grund, heute zu schweigen. Ebenso wenig dürfe man schweigen, wenn es um Homophobie und die Diskriminierung queerer Menschen gehe.
Er könne es nicht mehr hören, wenn Menschen ihm sagten, sie könnten die etablierten Parteien nicht mehr wählen, weil diese ihre Meinung nicht vertreten würden. „Darum geht es in einer Demokratie gar nicht“, betonte Maier. „Es geht darum, welche Parteien am besten das Gemeinwohl vertreten und nicht um persönliche Meinungen.“ Überdies könne in einer Demokratie jeder selber kandidieren.
„Wir, die Zivilgesellschaft, stehen auf für Demokratie, wir stehen auf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Wir stehen auf gegen das Erstarken von Hass und Hetze, gegen Intoleranz und gegen rückwärtsgewandte Geschichtsvergessenheit“, erklärte Bürgermeister André Seidig. „Wehret den Anfängen, denn die Geschichte von 1933 darf sich nie wiederholen. Deshalb zeigen wir heute klare Kante gegen Rechts und machen uns stark für die Verteidigung unserer Demokratie gegen ihre Feinde, das ist unsere staatsbürgerliche Pflicht.“
Die Enthüllungen des Recherche-Zentrums „Correctiv“ über das Potsdamer Geheimtreffen von rechtsextremen Netzwerken hätten die Menschen wachgerüttelt. Bei dieser Deportations-Konferenz sei es um die millionenfache Vertreibung von Menschen mit Einwanderungshintergrund nach rassistischen Merkmalen gegangen. „Wenn etwas in unserer Bundesrepublik nie wieder Platz haben darf, dann ist es die völkische Rassenideologie der Nationalsozialisten“, betonte Seidig. Diese Rassenideologie richte sich gegen die Grundfeste des Staates und des Grundgesetzes. Die Würde des Einzelnen und das friedliche Zusammenleben in Vielfalt seien zu achten und zu schützen.
„In vielen Städten unseres Landes demonstrieren die Menschen seit Tagen, heute auch in der Lutherstadt Wittenberg“, sagte Seidig. „Mein Dank gilt der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, die zu dieser Kundgebung aufgerufen hat und mein Dank gilt Ihnen, liebe Wittenbergerinnen und Wittenberger, dass Sie heute so zahlreich auf unserem Marktplatz ein klares Zeichen gegen Rechtsextremismus und für Menschlichkeit setzen. Haltung zu zeigen für Demokratie ist eine Gesellschaftsaufgabe, ist gelebter Verfassungsschutz.“
Es sei ermutigend zu sehen, dass so viele Menschen in ganz Deutschland auf die Straßen gingen und Flagge zeigten. Es sei ermutigend, wenn die vermeintlich schweigende Mehrheit jetzt ihre Stimme erhebe für eine Bundesrepublik, die demokratisch, liberal, weltoffen und frei sei. Keiner könne heute mehr sagen, er habe nicht gewusst, was Rechtsextreme in diesem Land vorhaben mit Menschen, die anderer Herkunft, anderer Religion, anderer Meinung sind. „Wir müssen uns wehren, und wenn nicht jetzt, wann dann? Wir müssen eine Brandmauer gegen Rechts setzen, gegen jene, die unter Ausnutzung demokratischer Freiheitsrechte die Demokratie abschaffen wollen“, so Seidig. Denn diese Menschen nutzten die Demokratie in verächtlicher Weise, um die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten und den Lebenswert anderer zu beschädigen.
„Heute setzen wir ein starkes Zeichen gegen rechte Hetze und die Rückkehr in dunkelste Zeiten unserer Geschichte, für Demokratie und Solidarität. Wittenberg ist eine weltoffene, bunte und menschenfreundliche Stadt und so soll es auch bleiben“, betonte Seidig. Es sei an der Zeit, zu zeigen, wofür die deutliche Mehrheit in dieser Stadt und in diesem Land stehe. „Wichtig erscheint mir, dass wir uns auch über diesen Tag hinaus weiter engagieren, dass wir wachsam und sichtbar sind und bleiben“, erklärte Seidig. „Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass die Grenzen des vermeintlich Sag- und Denkbaren unwidersprochen immer weiter in die rechtsextreme Richtung verschoben werden.“
Das Grundgesetz werde am 23. Mai des Jahres 75 Jahre alt, es sei die beste Verfassung, die Deutschland je hatte. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hätten aus den Schrecken des Nationalsozialismus ihre Lehren gezogen und eine wehrhafte Demokratie konzipiert. „Unsere Demokratie muss und wird sich wehren, wenn sie angegriffen wird“, sagte der Bürgermeister. „Denn wenn Rechtsextremisten an die Macht gelangen, dann ist die Demokratie am Ende. Sie wollen millionenfache Vertreibung aus Deutschland, Deportationen im Namen ihrer völkischen Ideologie. Erst erklären sie Menschen mit Migrationshintergrund zum Feind, am Ende sind es aber alle, die nicht in ihr beschränktes Weltbild passen: politische Gegner, Gewerkschaftler, Christen, Journalisten, Behinderte, Klima- und Umweltaktivisten, queere Menschen.“
Viel zu oft wurden in der Vergangenheit aus Worten Taten, wendeten Rechtsextremisten brutale Gewalt an: „Sie wollen spalten, einschüchtern, Andersdenkende zum Schweigen bringen.“ Die nun öffentlich gewordene Deportations-Konferenz in Potsdam mache zurecht vielen Menschen große Angst. Das seien keine Gedankenspiele mehr, sondern konkrete Pläne. Seit Tagen gingen deshalb Menschen auf die Straße: „Es ist der Aufstand der Anständigen und das macht Mut!
Unter dem Geläut der Glocken der Kirchen in der Stadt zogen die Teilnehmer der Kundgebung anschließend auf den Platz der Stadtkirche, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.
Bild: Die sehr gut besuchte Kundgebung am Sonnabend auf dem Wittenberger Marktplatz stand unter dem Motto „Klare Kante gegen Rechts!“ Foto: Wolfgang Gorsboth