Wittenberg (md/wg). Nur 32,4 Prozent der Abgeordneten im neuen Bundestag sind Frauen. Nach wie vor gibt es einen empfindlichen Unterschied in der Bezahlung von Frauen und Männern, denn Frauen verdienen 16 Prozent weniger pro Stunde als Männer. Dazu kommt die unbezahlte Arbeit, die Frauen verrichten. Der Gender Care Gap, der angibt, wie viele Stunden Frauen und Männer mit unbezahlter Arbeit verbringen, lag zuletzt im Bundesgebiet sogar bei über 44 Prozent. Frauen stemmen also durchschnittlich fast doppelt so viel Care-Arbeit wie Männer, unter anderem im Haushalt, in der Kindererziehung und in der Pflege. Und über 70 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind derzeit Frauen und Mädchen.
Was bedeuten diese Zahlen für eine liberale Demokratie und wie steht es um Gleichstellung heute? Mit diesen Fragen haben sich die Direktorinnen und Direktoren der fünf evangelischen Akademien in Ostdeutschland, darunter Christoph Maier von der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt (siehe Foto), auseinandergesetzt. „Im christlichen Gesellschaftsbegriff gibt es eine Zielvision, dass Sorgearbeit Aufgabe der ganzen Gemeinschaft sein muss“, sagt Stephan Bickhardt, Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen. Sorgearbeit dürfe nicht zu Lasten einer gesellschaftlichen Gruppe gestaltet werden. Hier müssten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft kreative und mutige Lösungen entwickeln, die sich an Gerechtigkeit orientieren.
Die Wege hin zu mehr Gleichstellung seien in einer Demokratie miteinander zu verhandeln. Es gehe darum, Anreize für beide Geschlechter zu schaffen, Care-Arbeit zu leisten, etwa durch bessere und leichter zugängliche Kinderbetreuung oder Gutscheine für Babysitting und Reinigungsarbeiten. Aber auch die gesetzlich festgeschriebene Möglichkeit für Männer und Frauen, für einige Zeit zugunsten von Care-Arbeit in Teilzeit zu gehen und später wieder in Vollzeit zurückzukehren oder eine selbstverständlichere Stellenteilung in Führungspositionen seien denkbar.
Ein ganz anderer Weg wäre hingegen eine Aufwertung von Care-Arbeit durch Entlohnung oder die Teilung von Gehältern in Ehen. Letzteres könnte ökonomische Gleichstellung schaffen, aber eine traditionelle Rollenverteilung zementieren. „Im Zentrum aller Überlegungen sollte nicht ein neuer Kulturkampf stehen, sondern die Frage nach dem guten Leben“, betont Stephan Bickhardt. Darüber hinaus setzten sich die Direktoren der evangelischen Akademien im Osten mit sogenannten Roll-back-Prozessen auseinander, also dem Bemühen, traditionellen Rollenbildern neue Strahlkraft zu verleihen.
„In den Sozialen Medien inszenieren sich sogenannte ‚Tradwives‘ als ideale Hausfrauen. In Unternehmen und Politik vernehmen wir neuerdings den Ruf nach mehr Maskulinität. Und die zweitgrößte Partei im Bundestag bekennt sich zur ‚traditionellen Familie als Leitbild‘“, so Friederike Krippner, Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin. „Rechtspopulismus und Antifeminismus sind eng verbunden. Solche antifeministischen Bilder richten sich gegen liberale Demokratien wie die Bundesrepublik, in deren Grundgesetz immerhin seit 75 Jahren die Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben ist. Der Rückzug ins vermeintlich private Glück ist damit hochpolitisch.“
In ökonomisch, ökologisch und gesellschaftlich herausfordernden Zeiten versprächen traditionelle Familienbilder offenbar Sicherheit, so Krippner. „Rechte und rechtpopulistische Kräfte weltweit wissen die Sehnsucht nach Sicherheit für ihr antiliberales Weltbild zu nutzen – und können sich dabei nicht selten auf evangelikale christliche Theorien stützen.“ Hier bedürfe es auch der theologischen Auseinandersetzung. Foto: W. Gorsboth/A